2011 - Der Besuch der alten Dame

Fotos: Jana Beyer

Späte Rache

19:00 Uhr Güllen – Bernburg - Güllen
Totenstille herrscht im Theatersaal. Keiner rührt sich. Wie seltsam es ist, auf einen Mord zu warten! Selbst wenn er nur auf der Bühne stattfindet. Seltsam und schrecklich zugleich. Und schließlich, nach langer, grässlicher Hetzjagd liegt Alfred Ill tot am Boden. Am Ende war es keiner, am Ende waren es alle.
Und doch wird um Ill keine Träne vergossen, weder auf der Bühne, noch im Zuschauersaal. Sind wir denn alle Güllener? Oder liegt es schlichtweg daran, dass es schwierig ist, sich in Dürrenmatts grandiosem und anspruchsvollem Stück für die „Gute Seite“ zu entscheiden.
Zum einen ist da die Alte Dame [Tanja Griniwa - überwältigend], die endlich Gerechtigkeit will, zum anderen Alfred Ill [Marius Lenhart - überzeugend], den man auf Wunsch der Claire Zachanassian für eine Milliarde zugrunderichtet. Wie eine Figur von einem Schwarzweißphoto, das jemand mal von Güllen gemacht hat, bleibt Ill farblos, während sich die Welt um ihn herum schleichend vergoldet, Bekannte, Freunde, und schließlich auch seine Familie.
Es ist äußerst beeindruckend, zu sehen, dass Jugendliche wie wir erwachsene, alte Menschen so authentisch spielen können, dass man in ihnen kaum noch die besten Freunde, die bekanntesten Gesichter der Schule erkennt. Im Zusammenklang mit Licht und Tontechnik verbrachte man das Publikum abwechselnd auf den Bahnhof, Ills Laden und viele andere Schauplätze des verarmten kleinen Güllens, das sich während des Besuches der Alten Dame in eine reiche, achtbare Kleinstadt verwandelte.
Doch zu welchem Preis? Ob nun eine sehr perfekte Bürgermeisterin [Lisa Sonar - großartig], ein schwacher, versuchter Kaplan [Carl Wienicke - ungemein glaubhaft] oder ein betrunkener Lehrer [Johannes Götz - eindringlich], - jeder ließ sich schließlich von „Kläris“ Geld verzaubern und niemand störte sich mehr an ihrem früheren Betragen, dem hohen Männerverschleiß oder der kühlen, beinahe verachtenden Haltung. Auf einmal waren nur noch Ills Verbrechen das Gespräch der Stunde. Und Güllner wie Theaterbesucher schienen sich nur noch eines zu fragen: Wer tut es? Wer tötet Alfred Ill? Wird er auf der Panterjagd erschossen, von der versammelten Menge auf die Gleise des Bahnhofs gedrängt?
Sie ängstigen ihn zu Tode. Und Claire Zachanassian überlässt ihnen das Geld, nicht ohne einen jeden als „Mörder“ zu bezeichnen.
Zweifelsohne regten die packende Inszenierung, das unübertroffene Schauspielerensemble und die interessante musikalische Umsetzung uns alle zum Nachdenken an.
Und so gingen wir aus dem Theater und dachten uns: Und die Moral von der Geschicht?
Die muss wohl jeder selber finden, ob nun Güllner oder nicht. Zumindest hat jeder, der nicht im Theater war und das Stück gesehen hat, etwas verpasst und sollte sich auf jeden Fall vornehmen, sich das nächste Stück anzugucken. Denn schließlich hat es bisher noch keine Aufführung gegeben, für die es keine Worte der überschwänglichen Begeisterung und Bewunderung gab. Und auch, wenn die Theatergruppe sich in diesem Jahr wohl von einigen Schauspielern verabschieden muss, die in zahlreichen Inszenierungen auf der Bühne brillierten, so kann man nur hoffen, dass sich wieder neue Leute finden, die uns von der Bühne herab einen Spiegel vor die Nase halten, denn sonst: Wo kämen wir denn da hin? ©Sarah Lietz